Percival Everett: Erschütterung

  Nicht das erwartete Highlight

Wenn man über das Wohlergehen des eigenen Kindes spricht, gibt es nur eine gute Nachricht: dass hundertprozentig alles in bester Ordnung ist. (S. 76)

Was aber, wenn es das plötzlich nicht mehr ist? Bei Zach Wells, dem schwarzen Ich-Erzähler und Professor für Geologie/Paläobiologie an einer kalifornischen Universität und seiner Frau Meg, Dozentin und Lyrikerin, schleicht das Unheil sich als böse Vorahnung ein. Einzig die Liebe zu seiner zwölfjährigen Tochter Sarah lenkte Zach bisher von seiner gepflegten Langeweile in Beruf und Ehe ab. Die kühle Distanziertheit und soziale Inkompetenz, die er gegenüber Studenten, Kollegen, seinem Job und seiner Frau an den Tag legt und auf die er sogar stolz zu sein scheint, steht im krassen Gegensatz zur Liebe zu seinem einzigen Kind. Doch nun muss der nüchterne, lösungsorientierte Wissenschaftler und bislang zynische, selbst-ironische Misanthrop akzeptieren, dass nichts und niemand seiner Tochter helfen kann. Sarah leidet an einer seltenen, durch einen Gendefekt ausgelösten neurologischen Erkrankung namens Batten-Syndrom, sie wird langsam vor den Augen ihrer hilflosen Eltern sterben.

„Ayúdame“
Parallel zur katastrophalen Diagnose erhält Zach eine ganz andere Nachricht: Beim Onlinekauf einer gebrauchten Jacke über Ebay findet er in deren Tasche einen Zettel mit dem Wort „Ayúdame“, „Hilf mir“. In einer Art Übersprungshandlung macht er, der seiner Tochter nicht helfen kann, sich auf die Suche nach dem anonymen Verfasser oder der Verfasserin und stößt auf verschleppte mexikanische Arbeitssklavinnen in New Mexico. Nicht eine plötzlich entflammte Empathie löst diese Hilfsbereitschaft aus, sondern der Wunsch, sich seiner eigenen Handlungsfähigkeit zu versichern.

© B. Busch

Von allem zu viel
Hätte es Percival Everett bei diesen beiden Handlungssträngen belassen, der beeindruckend unsentimentalen Krankheitsgeschichte und dem etwas übertrieben abenteuerlichen Krimi und Roadmovie um die Mexikanerinnen, der Roman hätte mir vermutlich deutlich besser gefallen. Doch Erschütterung  ist zusätzlich ein typisch amerikanischer College-Roman, der unter anderem dem dramatischen Schicksal einer jungen Professorenkollegin folgt, ein Roman um die sexuellen Fantasien eines Mannes in der Midlifekrise, Vater-Tochter- und Ehe-Geschichte sowie ein gesellschaftspolitisches Buch zu Themen wie Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Suizid und Kriminalität – auf gerade einmal 285 Seiten. Darüber hinaus packt Percival Everett so viel sprachliche Kabinettsstückchen hinein, dass ich irgendwann keine Lust mehr hatte, mir Gedanken über die Bedeutung der Einschübe zu Zachs Forschungen, zu kryptischen Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben, zu lateinischen Zitaten oder dem nervtötenden „In New Mexico war es heißer“ zu machen, aus dem schließlich „In Texas war es genauso heiß“ wird. Als zusätzlicher Gag existieren drei Versionen des Buchs mit kleinen Abweichungen und leicht verändertem Schluss. Dies alles trug ihm das höchste Lob des Feuilletons ein, für mich war es jedoch eindeutig von allem zu viel.

Besser lesen als hören
Ich habe den Roman in erster Linie gehört, ungekürzt, auf zwei mp3-CDs in etwa neun Stunden, gelegentlich jedoch ergänzend ins Buch geschaut. Leider konnte mich Christian Brückner als Sprecher hier erstmals nicht überzeugen, passt doch seine Stimme für mich nicht zu einem schwarzen, vitalen Mitvierziger und gleich gar nicht zu einer Zwölfjährigen.

Schade, denn nach den allgemeinen Lobeshymnen hatte ich ein echtes Highlight erwartet. Ich werde dem 1956 geborenen, hochgelobten amerikanischen Vielschreiber Percival Everett trotzdem irgendwann eine zweite Chance geben, dann allerdings lesend.

Percival Everett: Erschütterung. Übersetzung: Nikolaus Stingl. [Sprecher:] Christian Brückner. Parlando 2022
www.argon-verlag.de

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert